Erinnerung
(Mein Vater, Anfang der 1950er. Stolzer Besitzer von Phonotruhe und Röhrenradio in der [spärlich] möblierten Junggesellenwohnung auf der Wanheimer Straße, Duisburg-Hochfeld)
Wenn ich das Lied „Waldeslust“ höre, was heutzutage nicht mehr sehr häufig geschieht, denke ich daran, wie es war, als mein Vater das Lied auf der Mundharmonika gespielt hat, was er in meiner Kindheit, anfänglich durchaus zu meiner Freude, ziemlich regelmäßig getan hat und sich zumeist auch dann nicht nehmen ließ, wenn meine Mutter mit strengem Ton anmahnte, daß sich das jetzt ja wohl nicht mehr lohne, da es doch schon sehr bald Mittagessen geben würde und es gescheiter wäre, wenn wir schon mal den Tisch deckten.
Nie vergaß ich, wie er dann sorgfältig die schöne große Mundharmonika aus der, mit dem Gemälde eines Bergsees verzierten Pappschachtel nahm um auch sogleich kraftvoll und taktsicher aufzuspielen. Nach der ersten Strophe und dem ersten Refrain nahm er sie dann meist von den Lippen und begann zu singen: „Waldeslust, Waldeslust, o wie einsam schlägt die Brust… „. Das sind die einzigen Zeilen, dieses durch und durch romantischen „Volksliedes“, die ich mir merken konnte. Erst jetzt habe ich, im Rahmen dieser Erinnerungsarbeit, den vollständigen Text nachgeschlagen und ergänze mein bisher unvollkommenes Textfragment mit der bemerkenswerten zweiten und vierten Strophe:
Waldeslust, Waldeslust, o wie einsam schlägt die Brust.
Mein Vater kennt mich nicht. Die Mutter liebt mich nicht,
Und sterben mag ich nicht, bin noch so jung.
Mein Vater kennt mich nicht. Die Mutter liebt mich nicht,
Und sterben mag ich nicht, bin noch so jung.
Waldeslust, Waldeslust, o wie einsam schlägt die Brust.
/.Kommt einst der Tod herbei, ist mir das einerlei.
Legt mich zur kühlen Ruh und singt dazu./
Gern spielte und sang er auch:
„Lustig ist das Zigeunerleben, Faria Faria ho. Brauchen dem Kaiser kein Zins zu geben. Faria Faria ho. Lustig ist’s im grünen Wald, wo des Zigeuners Aufenthalt. Faria Faria Faria Faria Ho“
Auch dieses Lied kann ich nicht hören, ohne an meinen Vater und dessen eigenwilligen Vortragsweise zu denken. Diesen temperamentvollen und leicht skurrilen Vortrag vollständig zu beschreiben übersteigt mein Ausdrucksvermögen, es mag die bloße Andeutung hier stehen bleiben, die Sie sich aber leicht durch eigene Erinnerungen an musisch begabte Familienmitglieder und ihre unerschütterliche Begeisterung für das Liedgut der Vor- Zwischen- und Nachkriegszeit vervollständigen können. Benutzen Sie Ihre Fantasie!
Der letzte Anlass, an dem er und ich beide Lieder gehört hatten, war das Konzert des Gitarrenchors „Wahre Freunde Duisburg-Meiderich“, die regelmäßig vor Anwohnern und Angehörigen im Seniorenheim Wohnstift Walter Cordes Duisburg-Fahrn spielen, in dem meine Eltern zu diesem Zeitpunkt eben neu eingezogen waren. Wie ich meinen nun hochbetagten und schon sehr gebrechlichen Vater im Rollstuhl ins Foyer geschoben hatte, bemerkte ich gerührt, wie beim Vortrag der Wahren Freunde seine Lippen stumm die Worte von Waldeslust und Lustig ist das Zigeunerleben formten.
Das ist eine der letzten Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, der nur wenige Wochen nach diesem Ereignis verstorben ist.
Angaben zum Experienten/ zur Experientin:
Name: Klaus Steffen
Geschlecht: männlich
Angaben zum Experiential Recording:
Erinnerungstag: 24.05.2020
Erinnerungszeit: 21:41 Uhr
Interpret*in/ Song: Robert Koppel