Erinnerung
Der Song „Le vent nous portera“ von Noir Désir ist einer meiner Lieblingssongs aller Zeiten. Als ich ihn zum ersten Mal gehört habe, war ich 18 Jahre alt und saß mit 2 Franzosen, einer Französin, 2 Belgiern und einem weiteren Deutschen in einem alten Pajero, den wir uns gemeinsam angeschafft hatten. Wir kannten uns nicht, aber verstanden uns ganz gut. Wir hatten ein gemeinsames Ziel und lebten alle unter denselben Bedingungen: in der Ferne, jung, verwirrt, wenig Geld in der Tasche, keine konkrete Zukunft im Sinn. Schön war’s. Ich war die Kleinste aus der Gruppe und saß deswegen in der letzten Reihe, die besonders eng war. Ich teilte sie mir jeden Tag mit jemand anderem. Ich war happy, denn auf der hintersten Sitzbank saß oder lag ich meist am besten; Ich hatte von meinem Sitz aus alle 6 Menschen unserer Gruppe und damit das ganze Geschehen im Blick, konnte meine Füße aus dem offenen Fenster baumeln lassen und hatte durch das Schiebedach eine gute Sicht auf den – in den meisten Fällen- unbewölkten blauen Himmel oder, wenn wir nachts fuhren, auf lange dichte Sternenfelder. Wir waren die meiste Zeit high und hörten auf endlos langen Strecken durch die Weite laut Musik. im Pajero wurde nur selten geredet und wenn, dann wurde viel geredet und laut gelacht. Schön war’s, weil ich nicht wusste, was ich da machte. Ich habe es einfach geschehen lassen und nicht viele Fragen gestellt. Und dann an einem Tag, wir lagen oder saßen zu siebt in dem Wagen und hingen jeder für sich unseren Gedanken und Träumen nach, während einer von uns den Wagen fuhr -und da machte einer der Franzosen eben diesen Song an, einer der schönsten, die ich je gehört hatte, dabei verstand ich damals kein einziges Wort, das gesungen wurde. Der heiße Wind, das Gras, meine nackten Füße, fremde Sprachen, fremde Menschen, mit denen ich für einige Monate mein Leben teilte, und dann das Lied, das in mir zum ersten Mal im Leben den schönsten Gedanken weckte: Ich bin frei. Übersetzt heißt der Titel „Der Wind wird uns tragen.“ Später erfuhr ich, dass der Fronstänger der Band Bertrand Cantat seine damalige Liebhaberin Marie Trintignant zu Tode geschlagen hat. Der Song bekam durch diese Information einen bitteren Beigeschmack.
Seit dem Tag hat das Lied immer wieder seine Bedeutung verloren, verändert, wiedergewonnen und -verloren, aber jedes Mal, wenn ich ihn nach langer Zeit wiederhöre, weiß ich wieder genau, wie es sich angefühlt hat, in dem Pajero zu sitzen, Rücken an Rücken mit einem Fremden und einfach nur die vorbeirauschende Landschaft zu betrachten.
Angaben zum Experienten/ zur Experientin:
Name: Maral Sedighi
Geschlecht: weiblich
Angaben zum Experiential Recording:
Erinnerungstag: 11.05.2020
Erinnerungszeit: 12:42 Uhr
Interpret*in/ Song: Noir Desir