Gibraltar - Weather Report

Erinnerung

Ich wurde gebeten, eine Erinnerung zu beschreiben, die ein bestimmtes Stück Musik in mir auslöst. Dieser Bitte wird entsprochen werden, allerdings mit zwei Einschränkungen: Denn eigentlich handelt es sich hier nicht um einen kompletten Song, der etwas in mir berührt, sondern eher nur um eine kleine Passage innerhalb eines komplexen Jazzstückes. Zum Zweiten löst diese Passage eigentlich keine Erinnerung aus. Sie verweist also auf nichts, was real erlebt wurde. Vielmehr wird mit dieser kleinen Passage eine Sehnsucht assoziiert, ein Erlebnis, das niemals stattgefunden hat, aber als erlebenswert erscheint. In diesem Sinne deutet diese Sehnsucht auf einen Mangel hin, auf ein Stück bis dato ungelebten Lebens.

Aber wenden wir uns der Passage als solcher zu: Das Stück Musik heißt Gibraltar (Black Market heißt die LP) von der Jazzrock- Formation Weather Report und wurde komponiert von dem Keyborder Joe Zawinul. Es handelt sich bei dieser Passage um ein sehr ruhiges, mit wenigen Tönen versehenes Saxophonsolo.

Die relevante Stelle setzt bei 3:43 Minuten ein und währt genau 30 Sekunden lang, betrifft also einen nur denkbar kurzen Augenblick Sehnsucht. Dafür tritt diese dann mit jedesmal absoluter Zuverlässigkeit ein: Es ist die Sehnsucht nach einem friedlichen und harmonischen Leben. Dieses aber nicht irgendwo und irgendwie, sondern die Sehnsucht ist mit konkreten Bildern versehen, also alles andere als diffus. Was sehe ich also?? Ich sehe einen Hof in schöner Landschaft, ich sehe viele Menschen, die sich entspannt einer Tätigkeit hingeben, ich sehe lachende Gesichter und aufrechten Gang. Ich sehe dann wohl mein persönliches Paradies. Noch deutlicher als die Bilder ist die ihnen zugrundeliegende Emotion: Dieses Leben, so der starke Eindruck, ist dann eigentlich keine in die Zukunft verlagerte Sehnsucht, sondern mich befällt die Wehmut, als hätte ich dieses Leben irgendwie doch schon geführt. Dies entfaltet sich dann so stark, dass ich immer gespannt lauschen muss, damit mir nichts von diesem Eindruck entgeht. In diesen wenigen Sekunden komme ich auf ganz ruhige Art und Weise zu mir selbst. Eigentlich erstaunlich: dieser eigentümliche Effekt wird angestoßen durch einige wenige Sekunden Musik. Vielleicht sollte man dieser Sehnsucht, die ja die Schwester des Traums im Wachzustand ist, einfach folgen.