NISCHEN. Das Hörspiel – Interview

Gepostet am 01. Mrz 2021

NISCHEN. Das Hörspiel kam im März 2021 zurück ins W – coronabedingt leider nur virtuell. Das Hörspiel von willems&kiderlen war bis zum Ende der Spielzeit 20/21 auf der W-Website zu hören.

Hier sprechen wir mit dem Regieteam über das Projekt und die Aktualität von gesellschaftlichen Nischen:

Interview zum Hörspiel NISCHEN mit dem Regieteam willems&kiderlen (Kim Willems und Meret Kiderlen)

STM: Letzten März, also ziemlich genau vor einem Jahr, steckte eure Produktion „NISCHEN“ mitten in den Proben, als der erste Lockdown kam. So wurde die als Audio-Walk durch das Wallzentrum geplante Inszenierung kurzerhand zu einem Hörspiel. Wie habt ihr diesen Prozess erlebt? Was waren besondere Herausforderungen?

w&k: Wir haben mehrere Monate im Voraus zu Nischen in Moers recherchiert und am Konzept, einem Live-Audio-Walk durch das Wallzentrum, gearbeitet. Dann kam die Pandemie. Da die Live-Begegnung zwischen Publikum und Spieler*innen nun nicht mehr möglich war, haben wir beratschlagt und das Hörspiel zu unserem neuen Medium auserkoren. Das hat alles verändert.

Stellt euch vor, ihr streift mit Unbekannten durch die Gänge des Wallzentrums, über euch geht plötzlich ein Fenster auf und es winkt euch ein Bewohner zu, der kurz darauf im Innenhof auftaucht, um mit euch zu tanzen, während er euch von seiner Nische, einer Art Mehrgenerationenhaus, erzählt. Oder stellt euch vor, ihr geht durch das Wallzentrum, werdet nach und nach zu einer eingeschworenen Gruppe und Teil einer ganz speziellen Freiheitserzählung, um dann immer mehr am eigenen Körper zu erfahren, dass diese Eingeschworenheit unheimlich wird.

Wie soll man diese Begegnungen und körperlichen Erfahrungen nun in das Medium Hörspiel übersetzen? Das ist nicht so einfach. Man kann für dieses Medium ganz andere spannende Formen des Zusammenspiels zwischen Hörer*innen und Akteur*innen finden, aber das erfordert eben eine ganz andere Konzeption. Und so ist das Hörspiel eine andere Reise geworden als die ursprünglich geplante.

Auch für die Spieler*innen war dieser Bruch sehr abrupt. Wir hatten gerade zusammen einen Prozess angestoßen, den wir sehr gerne zusammen weitergegangen wären. Von ursprünglich drei geplanten Guides, die das Publikum durch das Wallzentrum geführt und dabei immer mehr um ihre Finger gewickelt hätten, ist im Hörspiel nur noch eine Rolle, die der Hauptsprecherin, geblieben.

Wir hoffen , dass das Hörspiel durch die spannenden Stimmen sowohl der Menschen aus Moers als auch der Spieler*innen des STM Zuhörenden wenn auch nicht körperlich und live, so doch über die Ohren angeht und bewegt.

STM: Welche besonderen Nischen habt ihr in Moers entdeckt?

w&k: Moers scheint generell einen sehr guten Nährboden für Nischen zu bieten. Vielleicht ist Moers selbst eine Nische, in der einfach vieles möglich ist, das woanders nicht möglich ist. Das behauptete zumindest der Mitgründer (oder Besetzer?) des Schlosstheaters Holk Freytag und erklärte uns im Interview, dass es auch mit dem Spezifikum des Niederrheins zu tun hätte. Auf jeden Fall ist uns an fast jeder Ecke ein etwas spezieller, schräger oder wie aus der Zeit gefallener Laden begegnet: die vielen Näh- und Handwerksutensilien-Geschäfte, die nachhaltige Goldschmiede Hynek, das anarchistische Zentrum Barrikade mit eigenem Verlag, der Getränkeautomat im Wallzentrum mit abgefahrenem Sortiment, aber auch die deutschtümelnden Entrümpelungsgeschäfte und die Dichte an Spielkasinos und Spelunken. Die Ambivalenz des Wortes Nische spiegelt sich in der Stadt wieder. Obwohl Moers eine kleine Großstadt ist, haben wir hier auch die städtischen Armuts-Nischen gefunden, aus denen es schwierig ist, herauszukommen und die die Stadtgesellschaft zu verdrängen versucht. Und überall begegneten uns Menschen, die wirklich seit langem schon ihre Überzeugung leben (wie Karl-Heinz Theussen vom SCI), ungewöhnliche Projekte hochziehen (die Pflanzenorchestranten der Band Recursion) oder ihre Faszination für andere Welten ausleben (wie die Mittelalter-Fans von der Rheinischen Rotte).

STM: Inwiefern hat sich das Thema der gesellschaftlichen Nischen durch die Pandemie verändert / verschärft?

w&k: In Hinblick auf die gesellschaftlichen Nischen gibt es seit dem Beginn des ersten Lockdowns zwei konträre Entwicklungen: Zunächst einmal entstand trotz des Rückzugs in die „eigene Haushalts-Nische“ wieder eine Art Mehrheitsgesellschaft, wie wir sie in unserer Inszenierung eigentlich schon fast abgeschrieben hatten: Die Mehrheit unterstützt die Pandemie-bedingte Politik der Regierung. Mehr Bürger*innen halten den Staat wieder für wichtig und vertrauen auf ihn. Und überall erzählt man überrascht Geschichten der gegenseitigen, ganz analogen Unterstützung in Nachbarschaften über Alters- und Gruppenzugehörigkeit hinweg.

Doch mit zunehmender Dauer der Pandemie gärt es eben andererseits auch in den Meinungs-Nischen, werden die Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Pandemie härter und die Gräben auch in Freundeskreisen und in Familien zur Zerreißprobe. Das Hörstück wird also mit jedem Tag des Lockdowns aktueller. Wenn Diskussionen um das Tragen von einer Maske im Bus scheinbar aus dem Nichts in wüste Beschimpfungen und verhärtete Fronten umschlägt vermuten wir, dass die Menschen sich wieder stärker in ihren „Echo-Kammern“ bewegen, in denen die eigenen Meinungen verstärkt und durch von Logarithmen ausgewählte Inhalte zementiert wird.