Erinnerungstag: 25.05.2020 | Erinnerungszeit: 13:31 Uhr | Anabel Jujol

Llevantina - La Principal de La Bisbal

Erinnerung

Ich bin das Kind holländischer und katalanischer Einwanderer ins Ruhrgebiet.

Mein Vater kam Anfang der 60er Jahre aus Barcelona nach Deutschland.

Er lernte meine Mutter (holländischer Migrationshintergrund – spielt für diese Geschichte aber keine Rolle :-)) in Essen kennen.

1966 heirateten die beiden und ich wurde im selben Jahr geboren.

Fast jeden Sommer meiner Kindheit reisten wir in den Ferien nach Katalonien, meist für vier Wochen, besuchten die Verwandtschaft in Barcelona und machten Urlaub an der Costa Brava in einem Dorf namens Calonge.

Im Sommer wurde und wird noch heute Donnerstags und Sonntags auf dem Dorfplatz von Calonge Sardanes gespielt und dazu getanzt.

In der Zeit unter Franco war die Sardana, ebenso wie die katalanische Sprache ein geächtetes und auch verbotenes Kulturgut.

Dabei ist der jahrhunderte alte Tanz ein Reigen der Jung und Alt, Groß und Klein, zum Mitmachen einlädt und im besten Sinne inklusiv ist.

Als ich ca. 8 Jahre alt war, fragte mein Vater einen älteren Herrn im Dorf, der einer der besten Tänzer und auch Sardanes-Komponist war, ob er mir (der kleinen strohblonden Tochter) den Tanz beibringen könne.

Das war in den späten Siebzigern, Franco muss gerade tot gewesen sein.

Herr Gendrau brachte mir in einigen Einzelstunden in mehreren aufeinanderfolgenden Sommerferien die einfachen Schrittfolgen, das Gefühl für den besonderen Takt und das Hüpfen in den fröhlichen Passagen der Musik bei.

Wenn dann Donnerstags oder Sonntags auf dem Dorfplatz Sardanas gespielt wurde, durfte ich bald an seiner Seite im Kreis der besten Tänzer*innen mit tanzen, auch wenn ich noch tapsig war und Fehler machte. Ich war sehr stolz und mein Vater auch. Das kleine tanzende blonde Mädchen, zwischen den katalanischen und auch französischen sechs bis acht über 60 jährigen Tänzer*innen der „Besten“, war sicherlich ein sonderbarer Anblick.

Die Sardana ist ein Reigen mit einer Ouvertüre, bei der eine Expert*in zunächst die Takte zählt.

Daraus ergibt sich eine Reihenfolge der Tanzschritte (es gibt zwei Varianten), die mit lauten Ansagen während des Tanzes rechtzeitig reingerufen wird.

Meist war und ist es so, dass der zählende Experte (in Calonge über Jahre Herr Gendrau), den zunächst kleinen ersten Kreis eröffnet.

Dann erweitert sich, während der ganzen Zeit in der eine Sardana gespielt wird, der Kreis und es kommen neue Kreise hinzu. Manchmal tanzen Kreise nebeneinander, manchmal ist ein kleiner Kreis im Inneren eines großen Kreises.

Jede*r kann jederzeit in einen Kreis, es gilt nur als unhöflich Paare zu trennen, wenn das erkennbar ist. Dann reiht man sich links oder rechts daneben ein.

Herr Gendrau hat mir sehr viel über den Takt erklärt, aber auch über dieses Konzept der Toleranz und Kooperation.

Auch wenn ich Fehler machen würde, noch sehr klein sei oder fremd (wie eine typische Touristin – blond ) aussähe, ich dürfte jederzeit in jeden Kreis und mit tanzen, so gut ich könnte.

In den 80er setzte an der Costa Brava ein Tourismusboom ein. Herr Gendrau hatte viel Gelegenheit neugierige Tourist*innen in das tänzerische Geschehen zu integrieren.

Das sind unvergessene Sommerabende, an denen auf dem Dorfplatz ganz unterschiedliche Menschen, Kinder und Alte, Kräftige oder eher Gebrechliche, Einheimische und Touristen aus ganz Europa miteinander im Kreis tanzten. In den vielen Jahren bis heute reiste und reise ich alle paar Jahre mit verschiedenen Freundinnen, Freunden, mit der Familie immer wieder nach Calonge, meist als Tagesausflug oder Stippvisite bei einem Verwandschaftbesuch in der Umgebung, um diese besondere Atmosphäre im Dorf zu genießen. Manchmal kann ich meine Begleitung überzeugen mit zu tanzen, machmal nicht. Aber alle sind von der Stimmung, der Musik und der fröhlichen Harmonie beeindruckt.

Ich habe die Sardana „Llevantina“ ausgewählt, weil sie eine meiner Liebsten ist und sehr häufig in Calonge gespielt wurde.

Die Kapelle (Cobla La Prinzipal de La Bisbal) war sehr häufig zu Gast im Dorf, wo immer wieder andere kleine Orchester zum Tanz aufspielen.

Die Musik weckt bei mir unglaubliche Emotionen, Erinnerungen und Sehnsüchte. Die Abwechslung zwischen den ruhigen Passagen und den schnellen  Teilen bei denen gehüpft wird, stimmt  mich abwechselnd melancholisch und fröhlich.

Das ist keine Musik, die ich außerhalb des Geschehens höre.

Sardanes muss ich tanzen, erleben und fühlen, in der Gemeinschaft, an einem schönen unbeschwerten Sommerabend, auf dem kleinen Dorfplatz in Calonge neben der Burg und der Bar mit Gartenterassse, wo man vorher oder nachher Tapas isst, Sangria trinkt, miteinander laut redet und viel lacht.

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Angaben zum Experienten/ zur Experientin:

Name: Anabel Jujol
Geschlecht: weiblich

Angaben zum Experiential Recording:

Erinnerungstag: 25.05.2020
Erinnerungszeit: 13:31 Uhr
Interpret*in/ Song: La Principal de La Bisbal

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