Erinnerung
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Wenn ich zur Ruhe kommen möchte, höre ich gerne klassische Musik.
Besonders gerne Mendelssohn, Felix und Fanny. Sehr gerne den „Paulus“
von Mendelssohn. Meine Mutter meint, dass das daher kommt, dass sie den Paulus im Chor
gesungen hat, als ich unterwegs war. Sie meint, ich hätte die Musik also
über die Bauchhaut aufgenommen. Oder vielleicht auch über die
Stimmbänder-Brustkorb-Bauchfell…
Jedenfalls höhre ich den Paulus gerne abends vorm Einschlafen, wenn ich
schon im Bett liege, zum Beispiel zwischen 23.00 und 24.00 Uhr.
Manchmal stelle ich mir meine Mutter mit dickem Bauch im Michel in
Hamburg dabei vor. In jedem Fall hat sie so 80er Leggins an und so weite
Baumwollpullis darüber. Besonders erinnere ich einen solchen weißen
Baumwollpulli, der aussieht wie von einem dicken Oberarzt geklaut.
Manchmal liege ich einfach nur da und denke so in mich rein.Cut.
– Beim Orthopäden, zu dem ich vor Corona öfter wegen meiner Hüfte
(vermutlich eine Erbkrankheit von Oma über Vater bis hin zu mir)
gegangen bin, lief im Januar, sagen wir, am Dienstag, den 21.1.2020 umn
9.00 Uhr morgens, im Wartezimmer das Lied „The Power of love“ von
Jennifer Rush. Daber denke ich immer an meine Eltern. Sie haben nach dem
obligatorischen Walzer zu diesem Lied ihre Hochzeit gefeiert. Das war
sogar vorm Paulus. Ich war noch nichtmal in Ansätzen vorhanden. Aber ich
kenne die Erzählungen und die Fotos, das „kecke Lachen“ meiner Mutter,
wenn sie erzählt, wie sie im Laufe des Abends ihren weißen Rock immer
weiter aufgeknöpft hat. – Ich erinnere mich dann weiter an die Abende,
in denen mein Bruder und ich im Schlafanzug vorm Türspalt standen und
die streitenden Eltern und fliegenden Gegenstände beobachtet haben…
Ich erinnere mich dann an Streit. „The power of love“…Cut.
– Zum Schreiben höre ich gerne „Kosheen“, zur Erinnerung an meine
zweite, ziemlich intensive und ziemlich konfliktbeladene Beziehung gerne
das Album Kokopelli von 2003. Darin sind Lieder, die z.B. „Recovery“
heißen, oder „Wasting my time“ oder auch „Coming Home“. Der Jakob und
ich haben dieses Albung oft beim Autofahren gehört. Das war 2010-2012.
2011 um Ostern herum waren wir mal mit dem Auto von Wien unterwegs ins
Burgenland, wo seine Eltern so ein „Landhaus“ hatten. Mitten in den
Hügeln, mit Kiwibaum und Naturpool im Garten. Auf der Autofahrt hat der
Jakob durchgeraucht und mir ist schlecht geworden vom Rauch, den Kurven
und dieser Wehmut, die Kosheen in mir ausgelöst hat. Wir haben dann auf
einem dieser Rastplätze Pause gemacht und in die Landschaft geschaut.
Ich habe ihn gebeten, nicht mehr beim Fahren zu rauchen und die Kurven
langsamer zu nehmen. Hat aber nicht so viel geholfen…Cut.
– Vor zwei Jahren, sagen wir mal, am 16. Mai 2018 um 14.00 Uhr, schreibt
mein Vater meinem Bruder und mir eine relativ lapidare Mail, in der er
uns darüber informiert, wie er seine Beerdigung gerne gestaltet hätte.
Er hätte beispielsweise gerne ein Picknick auf seinem Grab wie in
Mexiko. So mit Gitarre und Girlanden. Für meinen Bruder und mich hat er
sich auch schon eine Aufgabe überlegt: Wir sollen ihm „Imagine“ von den
Beatles spielen. Mein Bruder am Klavier/Keybord und ich soll’s singen.
Seitdem stelle ich mir dieses Szenario öfter vor und frage mich, ob mein
Vater eine Ahnung davon hat, dass er mir mit dieser Mail eine
„Zukunftserinnerung“ voller ambivalenter Gefühle beschert hat? – Ich war
noch nie ein krasser Beatlesfan, aber seitdem hat ihre Musik für mich
irgendwie an Leichtigkeit verloren.Cut.
– Wenn ich Tocotronic höre, dann bin ich in Gedanken immer in Berlin
unterwegs, da laufe ich dann durch den Viktoriapark bis zum
Kriegsdenkmal hoch und schaue über die Stadt oder laufe meine Runden auf
Inlineskates um das Tempelhofer Feld herum. Es war im Frühling 2012, als
ich in den letzten Zügen meiner Diplomarbeit steckte und in der Pause
immer in den Parks herumgelaufen bin. Manchmal zum Schaukeln, manchmal
nur zum Dumm-Herumlaufen. Beim Einkaufen auf dem Rückweg gingen dann
immer schon die Formulierungen für die nächsten Seiten wieder los… Ich
formulierte dann sogar die Frage aus, ob ich jetzt zum Abendessen besser
Zuccini oder Bohnen kochen sollte: „Wäre es heute nicht besser, die
Zuccini zu wählen, da mein Bauch bereits Zeichen von Anspannung
verlautbaren lässt?“ Und so weiter… Besonders erinnere ich mich an
das Lied: „Harmonie ist eine Strategie“ vom Album „Kapitulation“ von
2007. Ein Geschenk meiner guten Freundin Dania. Mit der habe ich im
Winter im Viktoriapark immer Schneeengel gedrückt. Hinlegen, Arme
ausbreiten und mit den Flügeln schlagen. Auch das zu Tocotronic.Cut.
Copy.
Und Paste.
Vor, zurück oder obendrüber.
Angaben zum Experienten/ zur Experientin:
Name: Viola Köster
Geschlecht: weiblich
Angaben zum Experiential Recording:
Erinnerungstag: 16.05.2020
Erinnerungszeit: 14:30 Uhr
Interpret*in/ Song: Felix Mendelssohn-Bartholdy